0

Highline – Höhepunkte am laufenden Band

Mit der Räthischen Bahn unterwegs
auf der Albula- und Berninalinie

Chur in Graubünden. Eigentlich ist die schöne Stadt nicht unbedingt bekannt als Dreh- und Angelpunkt für Menschen von überall her. Doch genau das ändert sich jeden Vormittag an Gleis 10 des Churer Bahnhofs aufs Neue. Wir stehen zwischen Fahrgästen aus Indien. Aus Asien. Aus Amerika und Skandinavien. Smalltalk wird hier ganz selbstverständlich auf Englisch gehalten.


Pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk rollen knallrote Wagons im Bahnhof ein. Bernina Express ist auf ihnen zu lesen, aber auch die großen Panoramafenster machen uns klar: Das ist unser Zug! Mit ihm werden wir die berühmte Berninalinie zwischen dem schweizerischen Chur und dem italienischen Tirano erkunden. Eine geschichtsträchtige, einmalig schöne und überaus interessante Reise voller Überraschungen. 


Einmal über die Alpen, bitte! 

Bequem sitzen wir in den gepolsterten Sesseln, während der Bernina Express lautlos anfährt. Von nun an werden wir die Alpen durch riesige Glasscheiben kennenlernen. Ein ungewohntes Gefühl. Eine Zugfahrt einfach nur der Zugfahrt halber? Wir sind entspannt – und gespannt! Was uns wohl erwartet?


Die Stimmung im Zug ist schon zu Beginn locker und voller Vorfreude. Es werden Getränke serviert und die ersten Sehenswürdigkeiten am Streckenrand angekündigt. Dabei befinden wir uns noch nicht einmal auf der berühmten Route zwischen Thusis und Tirano, die 2008 zum UNESCO Welterbe ernannt wurde. Diese Abschnitte der Albula- und Berninabahn sind nämlich nicht nur wunderschön anzuschauen, sondern auch bezüglich Bautechnik und Linienführung eine wahre Meisterleistung!

Tiefblicke inklusive

Eigentlich ist der Berninaexpress für seine weit hinaufgezogenen Panoramafenster berühmt, die einen freien Blick selbst auf die höchsten Berggipfel ermöglichen. Doch die Berge stecken heute ohnehin in einer dicken Wolkendecke. Wir konzentrieren uns daher lieber auf das was unter uns liegt – und das ist eine ganze Menge!


In der Viamalaschlucht überqueren wir die ersten spektakulären Steinbrücken, gemauert vor über einhundert Jahren, von denen sich überraschende Tiefblicke erhaschen lassen. Fuhr man eben noch durch dunkle Tunnels oder grüne Wiesen, verschwindet urplötzlich der Boden unter uns und gibt den Blick auf türkisblaues Wasser frei. Die Viamalaschlucht ist ein beeindruckendes Naturschauspiel, das vor tausenden von Jahren vom Gletschereis und Schmelzwasser in den Fels geschliffen wurde. Aussichtspunkte, Brücken und Infotafeln lassen diesen Ort bei jedem Wetter zum lohnenden Ausflugsziel werden. Wer gut vorausplant, steigt hier einfach aus, und nimmt erst wieder den nächsten Zug Richtung Italien.

Geschichte am Wegesrand

Wir dagegen bleiben sitzen und rollen schon bald weiter, immer tiefer in die Alpen hinein. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 50 Kilometern pro Stunde kommen wir zwar nur langsam voran, doch von Hektik und Stress ist man im Berninaexpress sowieso weit entfernt. Als wir über das weltberühmte Landwasserviadukt bei Filisur rollen, verlangsamt sich der Zug sogar. Ob nun aus reiner Vorsicht, oder um den Fahrgästen den eindrucksvollen Ausblick noch einen Moment länger nießen zu lassen? Wir freuen uns drüber, knipsen einige Erinnerungsfotos, schauen die 65 Meter hinab in die Tiefe und verschwinden schon direkt im Anschluss im nächsten Tunnel. Kaum zu glauben, wie dieses kolossale Bauwerk vor 120 Jahren in nur 18 Monaten erbaut werden konnte. 


Insgesamt begegnen wir an diesem einen Tag 55 Tunnels, 196 Brücken und einer Steigung von bis zu 70 Promille. Bereits 1898 begann der Bau dieser Strecke, die eigentlich ausschließlich für dampfbetriebenen Güterverkehr gedacht war. Sicherlich hat sich keiner der Tunnelarbeiter ausmalen können, dass mehr als hundert Jahre später Touristen aus aller Welt über diese Gleise rollen werden. Die Arbeiter, viele von ihnen kamen aus Italien, waren extremen Bedingungen ausgesetzt. Ihr Handwerk war gefährlich. Und sie prägten das Bild der kleinen Ortschaften vor und hinter dem langen Albula-Tunnel. Hier scheint die Zeit tatsächlich noch stehengeblieben zu sein. Und wer sich die Zeit nimmt, wird auf der Albula-Linie jede Menge Geschichte direkt am Wegesrand entdecken können. Pure Eisenbahnromantik!


Auf der Weiterfahrt passieren wir die berühmten Kehrtunnels. Die Bahn bewältigt also im Berg eine beachtliche Höhe und war vor dem Verschwinden im Berg das Tal noch in Fahrtrichtung links zu sehen, so ändert sich diese Tatsache fast schon im Minutentakt. Ein Verwirrspiel, bei dem sich ein Blick ins InfoT(r)rainment lohnt. Übers Smartphone lässt sich nämlich die gesamte Route im Überblick behalten – aktuelle Geschwindigkeit, Höhe und Sehenswürdigkeiten inklusive.

Höhepunkt folgt Höhepunkt

Langsam aber sicher schraubt sich der Zug weiter bergauf. Gleich hinter St. Moritz kommen wir dem hochalpinen Gelände sogar zum Greifen nah: Bei Pontresina, genauer der kleinen Haltestelle Morteratsch, lohnt eine kurzweilige Wanderung bis hin zur Gletscherzunge des mächtigen Morteratschgletschers. Das spannende hierbei: Für den nur drei Kilometer kurzen Spaziergang braucht man nur 200 Höhenmeter zu überwinden. Der Berninaexpress erreicht also bereits hier um ein Haar die Höhe der mächtigsten Eisriesen des Engadins – und erlaubt direkt aus dem Panoramafenster bombastische Ausblicke. Ganz klar einer der Höhepunkte der Berninalinie.


Nur wenige Minuten später hat sogar die Bahn selbst die 2000-Meter-Marke erreicht. Die Landschaft um uns herum wird karger, ist eine von Wind und Wetter geprägte. Der Schnee hält sich hier oft bis weit in den Juni hinein und unsere Sommerbekleidung wirkt vor den mächtigen Eisschollen auf dem Lago di Bianco plötzlich eher unpassend.


Trotzdem verlassen wir inmitten des Alpenhauptkamms den Berninaexpress. Wir wollen den Gletschern näherkommen und besuchen für einen ersten Eindruck die VR Glacier Experience im Gebäude der Diavolezza Talstation. Mithilfe eine Virtual Reality Brille gehen wir auf Schneehuhn-Suche mit einem Bergführer und lassen und von einer Glaziologin den erschreckend schnellen Rückgang des Eises erklären. Die virtuelle Realität macht mit imposanten Animationen deutlich, in welche Richtung sich der Klimawandel bewegt. In den Ausstellungsräumen der Glacier Experience kann man sich später dann auch gleich ansehen, was dagegen unternommen wird: Der Gletscher soll von einer gigantischen Beschneiungsanlage überspannt werden. Der künstlich erzeugte Niederschlag wird den Gletscher zwar nicht dauerhaft erhalten, aber den wichtigen Süßwasserspeicher hoffentlich deutlich länger am Leben erhalten können.


Um sich von den Gletschermassen selbst ein Bild zu schaffen, fährt man am besten gleich selbst mit der Gondel hinauf auf 2973 Meter und genießt einen Ausflug in die Welt der Eisriesen. Piz Bernina, der Namensgeber des Zuges, präsentiert sich an der Diavolezza Bergstation gemeinsam mit seinem Nachbarn Piz Palü. Unter ihnen fließen mächtige Eisströme. Jetzt wo wir wissen wie bedroht diese Landschaften sind, blicken wir durchaus ehrfürchtig in diese wunderschöne Alpenregion. Eine sensible Schönheit. Und ein grandioser Vorstoß der menschlichen Zivilisation in eine der wildesten Berglandschaften der Alpen. Die dünne Luft macht sich zwar schon beim Treppensteigen bemerkbar, das hindert die Küche jedoch nicht daran, hier oben leckere Mittagsgereichte aufzutischen. 

Majestätische Linien

Nächster lohnender Pausenpunkt ist die Alp Grüm. Da hat man übrigens bereits einen weiteren Höhepunkt der Berninalinie passiert: Das Ospizio Bernina auf 2253 Metern, der höchstgelegene Punkt der gesamtem Berninastrecke. Während wir also genaugenommen wieder bergabfahren, öffnen sich einmalige Ausblicke in die Livigno-Alpen. Italien ist zum Greifen nah!


Uns empfangen hier oben allerdings wieder schneeweiße Wolkenfelder, die vom Tal heraufziehen und uns nur ab und zu erahnen lassen, was hier eigentlich zu sehen wäre. Eindrücklich sieht der Berninaexpress aber allemal aus, wie er sich in seinem kräftigen Rot an uns vorbeischlängelt und im Tal verschwindet. Dann wird es plötzlich ganz still. Denn nicht einmal eine Straße führt auf die Alp Grüm hinauf, nur die Gleise der Räthischen Bahn, die hier sogar eine Besonderheit aufweisen: Bis 2006 war die Panoramakurve eingleisig mit einer Einfahrweiche an ihrem oberen Ende. Aufgrund der exponierten Lage und den regelmäßigen Schneeverwehungen, wurde allerdings die Weiche an das untere Ende der Kurve verlegt. Da es auf den steilen Felsvorsprüngen der Region keine Möglichkeit für eine Doppelspur gab, legte man die Gleise sehr eng aneinander. Diese langgezogene Kurvenweiche, direkt vor dem 400 Meter tiefen Abhang, ist aus bahntechnischer Sicht ein echtes Kuriosum. Und auch die Fahrgäste profitieren davon: Bei der Verlegung der Weiche wurden die Oberleitungsmasten auf die Innenseite der Kurve verlegt. Seitdem ist der Blick nach Süden hinaus ungehindert. 


In der Wolkendecke erblicken wir derweil plötzlich einen Schatten, der ähnlich elegante Kreise wie die Eisenbahn zieht. Ein genauerer Blick schafft Gewissheit: Ein Bartgeier nutzt den Aufwind und kreiselt aus dem Nebel immer weiter auf uns zu. Ein großartiger Anblick! Vor allem wenn man bedenkt, dass diese Tiere mit einer Flügelspannweite von 290 Zentimetern zu den größten flugfähigen Tieren der Welt gehören – und in ganz Europa nur ungefähr 250 Brutpaare leben. Ein wahrer König der Lüfte, der uns den kurzen Aufenthalt auf der Alp Grüm nicht nur versüßt, sondern auch zeigt, dass wir uns hier in einem schützenswerten Naturraum aufhalten!

Roundtrip mal anders

Für uns geht es bald schon wieder bergab. Zwar nicht in einem Berninaexpress, dafür aber in einer der Regionalbahnen, die ebenfalls die Berninalinie befahren. Hier treffen wir auf Lokführer Kai und Azubi Ivan. Sie erzählen uns von den Abenteuern, die der Beruf mit sich bringt. Zum Beispiel von meterhohen Schneewänden, durch die der Zug sich im Winter arbeitet. Von der mächtigen Schneeschleuder, die dann die Gleise freiräumt. Von wunderschönen Sonnenaufgängen. Von einer fordernden Ausbildung und der vielen Erfahrung, die man als Lokführer auf der Berninalinie benötigt. Denn ohne diese Erfahrung geht hier oben nichts! Automatisierte High-End-Systeme? Nein, hier wird noch auf menschliches Können setzt. Zum Beispiel bremsen die Bahnprofis im Winter schon provisorisch bergauf – um eine künstliche Wärme zu erzeugen, mit der dann gegen Schnee und Eis anzukommen ist.


Und so ist dann auch der Blick ins Führerhaus der Regionalbahn: Rustikal. Etabliert und funktional. Übrigens auch eine einmalige Gelegenheit, um einen Blick durch die Frontscheibe zu ergattern. Der bleibt nämlich den meisten Fahrgästen verwehrt! Wir aber haben das Glück und fahren just in diesem Moment durch das berühmte Kreisviadukt von Brusio. 


1907 hat man dieses Bauwerk, das uns sofort an ein Amphitheater erinnert, errichtet. Auf etwa 140 Metern überwindet die Brücke zehn Meter Höhenunterschied, bevor der Zug unter dem gerade erst passierten Gleis hindurchfährt und weiter bergab rollt. Dieses monumentale korkenzieherförmige Bauwerk scheint uns tatsächliche eine Art Magie entgegenzustrahlen. Eine Magie, von der wir uns nur zugerne fesseln lassen. Ivan dagegen ist hochkonzentriert. Es hat begonnen zu regnen und auch wenn die Temperaturen weit vom Gefrierpunkt entfernt sind, so ist bei derartigen Wetterverhältnissen seine ganze Aufmerksamkeit gefordert. Kai aber ist zufrieden mit der Leistung seines Azubis und auch wir lehnen uns schon bald in die Sitze zurück und lassen Italien auf uns zurollen.

Bella Italia

Tirano kurz hinter der italienischen Grenze. Wir sind erstaunt, wie stark sich das Örtchen von unserem Startpunkt unterscheidet. In der Altstadt flanieren wir vorbei an Cafés und kleinen Geschäften. An Restaurants, Eisdielen, uralten Gemäuern und saftig grünen Gärten. Das romantische Stadtbild wird von Palmen und der Wallfahrtskirche Madonna di Tirano geprägt. 


Natürlich lassen wir den Abend bei einer italienischen Pizza und einem guten Glas Wein ausklingen. Was haben wir heute alles gesehen. Beginnend im modernen Chur. Schluchten, Wälder und Wiesen durchquerend. Vorbei an Gletschern und dem einzigen Viertausender der Ostalpen, dem Piz Bernina. Und nun ist das alles zur Erinnerung geworden. Eine Erinnerung, die sich noch lange frisch und lebendig anfühlen wird. Eine Erinnerung, die mehr beinhaltet, als wir für möglich gehalten hätten. Ein Tag. Eine Bahnlinie. Aber unzählige Eindrücke.

Autor: Benni Sauer

Nichts mehr verpassen mit Alpstyle-Abo!

Abos & Preise

Aktuelle Stories lesen

11 Apr., 2024
Was die Alpen sind? 
09 Apr., 2024
Gleich bei Ihrer Ankunft wird Sie der atemberaubende Blick auf Ettal, das Kloster und die Berge begeistern – Weitblick, den Sie von unserer Hotelterrasse, vom Panoramafenster im Wellnessbereich und vielen Zimmern genießen können. Oberhalb von Ettal, abseits vom Getümmel der Straßen, bleibt die Zeit für einen Moment stehen.
09 Apr., 2024
Das Vier-Sterne-Superior Parkhotel am Soier See liegt gut 60 Autominuten von Augsburg und München entfernt, am Ufer des Soier Sees.
mehr
Share by: