„Alpenglühn“ hieß das Berggasthaus am Rand des kleinen Ehrwalder Skigebiets in der Tiroler Zugspitzarena, das fast jede und jeder kannte. Familien wärmten sich dort mittags mit einer Speckknödelsuppe auf. Skitourengeher, die die lange Grünstein-Umfahrung hinter sich gebracht hatten, freuten sich auf ein frisches Bier auf der Terrasse, um den ersten Durst zu löschen. Was viele nicht wussten: Die Eigentümer hatten sich bereits in den 1930er Jahren zusichern lassen, dass sie hier oben auf 1.550 Metern Zimmer vermieten dürfen. Und nur deshalb bestand die Chance, in dieser besonders begehrten Lage, weit weg vom Trubel im Tal, ein exklusives Refugium mit neun Suiten bauen zu dürfen.
Als die Eigentümer diese Option zogen, war das Schicksal des alten Gasthauses besiegelt. Aber die Locals versöhnte die Tatsache, dass es drei einheimische Familien sind, die die Idee für das „eriro Alpine Hide“ hatten, das im Sommer 2024 an den Start ging. „eriro“ ist das althochdeutsche Wort für „am Anfang des Waldes“. Das passt gut, denn von der großzügigen Terrasse des neuen Gebäudes blickt man auf Almwiesen, die in Wald übergehen. Nicht so gut passt die sehr in Mode gekommene Bezeichnung „Hide“, denn so richtig „away“ ist das eriro nicht. Der Vorteil im Winter: Die Piste führt direkt am Haus vorbei, bequemes Ski-in/Ski-out ist möglich. „You can’t have the cake and eat it“, sagen die Angelsachsen treffend. Bequem und einsam sind manchmal nicht unter einen Hut zu bringen.
Tatsächlich ist es aber so, dass man im eriro vom gemeinen Volk wenig bis nichts mitbekommt, wenn man nicht möchte. Eine Holztür, verziert mit kunstvollen Arbeiten eines einheimischen Schmieds, weist den Weg ins Innere. Eine Rezeption gibt es nicht. Stattdessen wird man von Gastgeber Henning Schaub begrüßt und mit dem Haus vertraut gemacht. Man duzt sich, wie es in Tirol üblich ist, am Berg sowieso. Bereits der mit Holz und Schafwolle verkleidete Aufzug macht Laune. Man möchte gleich mehrmals rauf und runter fahren in diesem Designer-Stück. Und man fragt sich, warum es auch Fünf-Sterne-Hotels oft nicht schaffen, diese Fahrzellen gemütlicher zu gestalten. Die Suiten – die kleinste misst 49 Quadratmeter – haben keine Key Card aus Plastik, sondern einen echten Schlüssel. Sein Zimmer findet man, indem man auf den Boden schaut, wo die Nummer auf einen großen Stein gemalt ist. Ein anderer, an einer Art Yo-Yo befestigter Stein, zeigt an, ob man das Bett gemacht oder seine Ruhe haben will. Low-Tech eben und eine originelle Idee außerdem.
Die gemütliche Atmosphäre, die die Flure mit ihren Lehm-verputzten Wänden, dem vielen Holz und der Schafwolle verströmen, setzt sich in den Suiten fort. Sehr haptisch wirkt das alles. Man möchte die warmen Materialen ständig anfassen. Die aus einem Baumstamm gestaltete freistehende Badewanne gleich voll laufen lassen. Hinaus auf den Balkon treten und im Day Bed tagträumend auf die schroffen Gipfel der Mieminger Kette schauen. Wenn es dann kühler wird, geht das auch vom richtigen Bett aus noch sehr gut, denn die bodentiefen Fensterfronten erlauben freie Sicht auf die Berge, die hier der eigentliche Star sind. Architekt Martin Gruber hat das gut hinbekommen. Obwohl neu, wirkt das Interior Design stimmig und gemütlich, auch dank des vielen Altholzes, das verbaut wurde.
In den Suiten soll möglichst wenig von dem feinen Panorama ablenken. Grelle Farben fehlen, die Töne beschränken sich auf natürliches Braun, Grün und Grau. An den Wänden hängen keine Bilder. Ein Passwort fürs WLAN gibt es nur auf Anfrage. Statt einer Hightech-Stereoanlage lädt ein analoger Plattenspieler zum Entdecken vergessener Musikwelten ein. Wie wär’s mit Jazz von Natalie Cole? Mit echtem Knistern der Nadel auf der Platte? Ja mei, der naturentfremdete Großstädter sucht halt das Authentische. Das wissen sie in Ehrwald. Und deshalb bespielen sie diese Platte sehr gut. Das tun auch andere. Chalet-Dörfer gibt es in den Alpen inzwischen wie Sand am Meer. Die meisten müssen sich jedoch mit einer Tallage zufrieden geben. Das eriro hingegen trumpft groß auf, wenn die Menschen den Rückzug in eben dieses Tal antreten müssen. Wenn die letzte Gondel nach unten schwebt. Wenn Ruhe einkehrt auf der Alm. Man ist dann hin- und hergerissen. Lieber noch länger auf dem Day Bed fläzen und sich und der Natur beim Nichtstun zugucken? Sich ein Stockwerk tiefer einen ersten Drink genehmigen? Die Versuchung ist groß, denn AI steht im eriro nicht für Artificial Intelligence, sondern für All Inclusive! Oder zwei Stockwerke tiefer den Wellnessbereich erkunden?
Tatsächlich tut es gut, die müden Muskeln nach einer Berg- oder Biketour in den warmen Becken zu lockern. Einen Outdoor-Pool gibt es leider nicht, den ließ das Baurecht nicht zu. Ein Tauchbecken musste nach einer Beschwerde wieder rückgebaut werden, obwohl es weder Reh noch Hase gestört hätte, Neider schon eher. Egal, das Spa macht auch Indoor Spaß. Um die finnische Sauna zu entern und zu verlassen, watet man durch kühles Wasser mit Eisnebeldusche. Zum Dösen legt man sich in bequeme Heubetten und Schlaufenliegen. In einem vollständig mit Heu ausgekleideten Zimmer logiert man in einem Infrarot-beheizten Stuhl und schaut auf einen großen Flachbildschirm (den einzigen im ganzen Haus), auf dem mit Musik unterlegte Luftaufnahmen der heimischen Berge abgespielt werden können. Der Stuhl vibriert dazu im Rhythmus der Musik. Das ist – zum einen – mindestens so meditativ, wie sich in die Floating-Meditationsbecken zu legen, die ein bisschen an japanische Onsen erinnern. Zum anderen fragt man sich natürlich schon, ob man überhaupt noch nach draußen gehen muss, wenn die Natur so bequem hereinkommt. Produkte einer bekannten Kosmetiklinie gibt es im Spa übrigens nicht. Bei Massagen kommen selbst hergestellte Öle aus den fünf heimischen Heilkräutern Arnika, Johanniskraut, Schafgarbe, Spitzwegerich und Brennnessel zum Einsatz.
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